Castanedas System

Eine kritische Betrachtung

Wir haben mehr Möglichkeiten als wir glauben

Castaneda unterscheidet zwischen den Alternativen und den Möglichkeiten der Menschen. unsere Alternativen sind begrenzt durch die Beschränkungen unserer Weltsicht, die von unserer Umgebung vorgegeben sind. Die menschlichen Möglichkeiten, dass was wir erreichen können, ist wesentlich mehr, wir müssen uns aber davon überzeugen lassen.

 

Wir sind nur gekommen,
ein Traumbild zu sehen, wir sind
nur gekommen zu träumen, nicht wirklich, nicht wirklich sind wir gekommen,
auf der Erde zu leben.

von: Tochihuitzin Coyolchiuhqui (aztekischer Dichter, um 1419)

Zauberer sagen, dass die wahre Rebellion eine Revolution gegen die eigene Dummheit ist, und dass dies unser einziger Ausweg ist. Ihr versteht, dass man diese Arbeit nur alleine tun kann.

aus: Torres, Armando. Begegnungen mit dem Nagual : Gespräche mit Carlos Castaneda

 

Unser Verstand verlangt nach einer Erklärung all dessen, was ins umgibt. Norbert Classen begann ein Studium der Philosophie, das ihm ein tieferes Verständnis der toltekischen Lehren erschloss. Es stellte sich heraus, dass das Wissen der Tolteken im Lichte der Philosophiegeschichte gar nicht so fremdartig ist, wie der erste Eindruck vermuten lässt, sondern dass es eine geradezu zwingende Folgerichtigkeit besitzt, die in Strenge und Konsequenz keiner abendländischen Wissenschaft nachsteht. Der Eindruck der »Fremdartigkeit« entsteht vielmehr aus dem für uns Europäer schwer zugänglichen indianischen Kontext, aus dem jene Lehren entsprungen sind. Im folgenden ein Vergleich mit Platon:

aus: Norbert Classen Das Wissen der Tolteken

Zunächst  eine kritische Betrachtung der Gedankenwelt Castanedas:

 

Platons Ideenlehre

 

Platons originellster Beitrag zur Philosophie ist die sogenannte »Ideenlehre «. Unter »Idee« versteht man in der Alltagssprache eine private mentale Vorstellung, wie z. B. das eigene mentale Bild eines Baumes oder eines Pferdes Manchmal sagen wir »Ich habe eine Idee!« und meinen damit, dass wir einen Einfall oder die Lösung eines Problems gefunden haben. Ganz anders ist Platons Gebrauch des Wortes eídos, das etymologisch »Form«, »Gestalt« oder »Aussehen« bedeutet. Was Platon damit meint, wird im Dialog Phaidon ersichtlich: Hier wird zunächst der platonische Begriff einer Idee mit dem Begriff der letzten Ursache (Grund, Erklärung) aller sinnlich wahrnehmbaren Dinge gleichgesetzt. Was eine Idee sei, und wieso man an ihre Existenz glauben muss, wird dann wie folgt erklärt:

Ich will also versuchen, dir den Begriff der Ursache aufzuzeigen, womit ich mich beschäftigt habe, und fange davon an, dass ich voraussetze, es gebe ein Schönes an und für sich, und ein Gutes und Großes. Mir scheint nämlich, wenn irgendetwas anderes schön ist außer jenem Schönen selbst, dass es wegen gar nichts anderem schön sei, als weil es teilhabe an jenem Schönen, und ebenso sage ich von allem.  Und so verstehe ich denn gar nicht mehr und begreife nicht jene anderen gelehrten Gründe; sondern wenn mir jemand sagt, weswegen irgendetwas schön ist, entweder weil es blühende Farbe hat oder Gestalt oder sonst etwas dieser Art, so lasse ich das andere denn durch alles übrige werde ich nur verwirrt gemacht – und halte mich ganz einfach und kunstlos und vielleicht einfältig bei mir selbst daran, dass nichts anderes es schön macht als eben jenes Schöne, nenne es nun Anwesenheit oder Gemeinschaft, wie nur und woher sie auch komme, denn darüber möchte ich nichts weiter behaupten, sondern nur, dass vermöge des Schönen alle schönen Dinge schön werden.  Dieser Abschnitt mag schwierig erscheinen, aber Platons Gedankengang lässt sich mit einem trivialen Beispiel erläutern. Angenommen, ein bestimmtes Ding (z. B. eine Vase) sei schön: Wie lässt sich diese Tatsache erklären? Es liegt nahe, diese Frage mit Bezug auf die wahrnehmbaren Eigenschaften der Vase zu beantworten, z. B. ihre Gestalt oder ihre Farben. Aber diese Erklärung ist unbefriedigend, denn sie setzt voraus, dass die Gestalt, die Farben oder ihre Kombination selbst schön seien: Die Vase ist schön, sagt man, weil sie schöne Farben hat; aber wieso sind die Farben schön? Die grundlegende Frage, wieso die Vase schön sei, kann also nicht beantwortet werden, solange man nur Bezug nimmt auf ihre empirischen (sinnlich wahrnehmbaren) Eigenschaften. Das alles scheint nachvollziehbar zu sein. An diesem Punkt nimmt Platons Argumentation jedoch eine überraschende Wende. Wenn der Grund, wieso die Vase schön ist, nicht ihre empirischen Eigenschaften sind, dann muss er nicht-empirischer Art sein. Wieso ist die Vase schön? Die Vase ist schön, so Platon, weil sie an der Schönheit an sich bzw. an der Idee der Schönheit teilhat. Eine solche Idee ist ein realer Gegenstand nicht sinnlicher Art, den wir aber mit unserem Verstand erfassen können.

 

Castaneda sagt:

Die Menschen vollbringen als Lebewesen ein erstaunliches Wahrnehmungsmanöver, das leider zu einem Missverständnis führt und einen falschen Eindruck schafft. Die Menschen benutzen den Zustrom reiner Energie im Universum dazu, ihn in sensorische Daten zu verwandeln, die sie nach einem starren Interpretationssystem deuten. die menschliche Form. Dieser magische Akt der Interpretation reiner Energie führt zu dem Missverständnis und der sonderbaren Überzeugung der Menschen, ihr Interpretationssystem sei das einzige, das es gibt.

Ein Beispiel:

Der Begriff Baum, also das, was wir Menschen unter Baum verstehen, ist eher eine Interpretation als eine Wahrnehmung. Um das Vorhandensein von Baum festzustellen, genüge den Menschen ein kurzer Blick, der ihnen kaum etwas verrät. Alles Übrige sei ein Phänomen, das man als Aufrufen der Intention bezeichnen kann, nämlich der Intention des Baums. Das heißt, es handelt sich um eine Interpretation von Sinnesdaten, die das bestimmte Phänomen betreffen, das die Menschen Baum nennen. Wie in diesem Beispiel, besteht die ganze Welt des Menschen aus einem unendlichen Repertoire von Interpretationen, bei denen die menschlichen Sinne nur eine geringe Rolle spielen. Mit anderen Worten, nur der Gesichtssinn nimmt den Zustrom von Energie aus dem Universum wahr, und das nur oberflächlich.

Die Grundprämisse der Zauberei:

Für einen Zauberer  ist die Welt des alltäglichen Lebens nicht wirklich oder so, wie wir dies annehmen. Für einen Zauberer ist die Wirklichkeit oder die Welt, die wir alle kennen, nur eine Beschreibung.

Jeder, der mit einem Kind in Kontakt kommt ist ein Lehrer, der unaufhörlich die Welt erklärt, bis zu dem Augenblick, wo das Kind die Welt so wahrnehmen kann, wie sie ihm erklärt wird.

Daher ist das, was wir als Welt wahrnehmen, nicht die Realität.

Da wir mit ihr vertraut sind, glauben wir, dass das, was wir wahrnehmen, eine Welt der Dinge sei, die genauso existieren, wie wir sie wahrnehmen, während es in Wirklichkeit eine Welt der Dinge gar nicht gibt, sondern vielmehr ein Universum von Emanationen: Licht, Geruch, Geschmack, Geräusche, Tastsinn.

Diese Emanationen stellen die einzig unabänderliche Realität dar, eine Realität, die alles Existierende umfasst, das Wahrnehmbare wie das Nichtwahrnehmbare, das Erkennbare und das Unerkennbare.

 

Für den Durchschnittsmenschen sind die Möglichkeiten des Menschen Unfug oder ein finsteres Geheimnis, das er nicht begreift. Und er hat recht - nicht, weil dies eine unabänderliche Tatsache wäre, sondern weil der Durchschnittsmensch nicht genug Energie hat, um sich auf die Möglichkeiten einzulassen.

Der Mensch kommt mit einem gewissen Quantum an Energie zur Welt - eine Energie, die sich von Geburt an konsequent entfaltet, um durch die Modalität der Zeit möglichst vorteilhaft genutzt zu werden. Die Modalität der Zeit ist jenes Bündel von Energiefeldern, das wir wahrnehmen. Die Wahrnehmung des Menschen hat sich im Lauf der Jahrhunderte verändert. Der augenblickliche Zeitpunkt ist es, der den Modus unserer Wahrnehmung bestimmt. Die Zeit bestimmt, welches aus einer unendlichen Zahl von gebündelten Energiefeldern jeweils genutzt werden soll. Die Beschäftigung mit dem Zeitmodus mit den wenigen ausgewählten Energiefeldern - verbraucht alle unsere Energie. und uns bleibt nichts, was uns helfen könnte, andere Energiefelder zu nutzen. Daher kann der  Durchschnittsmensch nicht die Welten wahrnehmen, welche gesehen werden können. Um diese wahrzunehmen, muss ein Bündel von Energiefeldern angezapft werden, das normalerweise nicht genutzt wird. Und dies kann der Durchschnittsmensch nicht, weil seine ganze Energie schon verbraucht ist.

Was man im Lauf der Zeit lernt, ist Energie zu sparen. Und diese Energie befähigt, einige Energiefelder zu erschließen, die jetzt noch unzugänglich sind.  

Im Universum gibt es eine unermessliche und unbeschreibliche Kraft, die Absicht. Und alles im Kosmos Existierende ist durch ein Bindeglied mit der Absicht verknüpft. Notwendig ist es, dieses Bindeglied zu klären. zu verstehen und zu nutzen. Vor allem bemühen sich die Wissenden, dieses Bindeglied von den lähmenden Folgen zu läutern, wie es die gewöhnlichen Sorgen des Alltags bedingen. Dieses bedeutet einen Prozess der Läuterung unseres Bindeglieds zur Absicht. Dieser Prozess ist schwer zu verstehen und noch schwerer durchzuführen.

 

Carlos Castaneda: Sechs grundlegende Lehrsätze (Übersetzt aus dem Mexikanischen von José Zaragoza)

 

Trotz der erstaunlichen Manöver, die Don Juan mit meiner Bewusstheit vollführte, bestand ich im Laufe der Jahre eigensinnig darauf, seine Taten mit dem Intellekt bewerten zu wollen. Obwohl ich viel über diese Manöver geschrieben habe, so ist dies immer aus dem Blickwinkel der eigenen Erfahrung heraus geschehen und außerdem aus einer voll und ganz vernunftbezogenen Position. Verstrickt in meine eigene Rationalität, konnte ich die Ziele der Lehren des Don Juan nicht erkennen. Um die Reichweite dieser Ziele halbwegs verstehen zu können, war es notwendig, daß ich meine menschliche Form verlor und die Ganzheit meines Selbst erreichte. Die Lehren des Don Juan hatten das Ziel, mich durch die zweite Phase der Entwicklung eines Kriegers zu leiten: den Beweis und das bedingungslose Akzeptieren der Tatsache, dass es in uns eine andere Art der Bewußtheit gibt. Diese Phase war in zwei Kategorien unterteilt. Die erste, für welche Don Juan die Hilfe Don Genaros benötigte, betraf die Handlungen. Dabei wurden mir bestimmte Vorgehensweisen, Aktionen und Methoden gezeigt, die mein Bewusstsein trainieren sollten. Die zweite bestand in der Abhandlung der sechs grundlegenden Lehrsätze. Aufgrund der Schwierigkeiten, meine Vernunft so anzupassen, daß ich die Folgerichtigkeit seiner Lehren hätte akzeptieren können, präsentierte mir Don Juan diese erklärenden Lehrsätze auf eine Art, die meiner schulischen Vorbildung entsprach. Das erste, was Don Juan tat, war die Schaffung einer Spaltung in mir mit Hilfe eines genauen Schlages auf das rechte Schulterblatt, der mich in einen ungewohnten Bewusstseinszustand treten ließ, an den ich mich aber nicht mehr erinnern konnte, nachdem ich wieder in die Normalität zurückgekehrt war. Bis zu dem Augenblick, in dem mich Don Juan in diesen Bewusstseinszustand eintreten ließ, hatte ich einen unwiderlegbaren Sinn für Kontinuität, die, wie ich glaubte, ein Produkt meiner Lebenserfahrung war. Die Idee, die ich von mir selber hatte, war die, ein vollständiges Wesen zu sein, das über alles Rechenschaft ablegen könne, was es je getan hatte. Außerdem war ich davon überzeugt, dass der Ort, an dem sich all meine Bewusstheit befand, in meinem Kopf sei. Es gibt jedoch  ein Zentrum an der Wirbelsäule, in Höhe der Schulterblätter, welches offensichtlich ein Platz der gesteigerten Bewusstheit ist. Dieses Zentrum kann durch den Nagualschlag aktiviert werden. Die Natur dieses Schlages bedingt, dass der Schlag von einem Nagual ausgeführt werden muss. Der Nagual ist ein Führer, der die Verantwortung trägt, den Weg zu bahnen, und der makellos sein muss, um seine Krieger mit einem Gefühl der Zuversicht und Klarheit zu durchtränken. Nur unter diesen Voraussetzungen ist ein Nagual in der Lage, auf den Rücken zu schlagen, um eine Verschiebung des Bewusstseins herbeizuführen, denn es ist die Kraft des Nagual, die diese Veränderung bewirkt. . Der Nagual muss einen bestimmten Punkt anschlagen müsse, welcher von Mensch zu Mensch variiert, der sich aber immer in der Gegend der Schulterblätter befindet. Ein Nagual  muss »sehen«, um die genaue Stelle zu finden, die sich auf der Schale des leuchtenden Eies befindet und nicht im physischen Körper; hat sie der Nagual ausfindig gemacht, stößt er sie eher an, als dass er schlägt, und schafft so eine Delle, eine Vertiefung im leuchtenden Kokon. Der gesteigerte Bewusstseinszustand, der durch diesen Schlag herbeigeführt wird, dauert so lange an, wie die Vertiefung bestehen bleibt. Manche Lichteier kehren von selbst zu ihrer ursprünglichen Form zurück, manche müssen zu diesem Zweck auf eine andere Stelle geschlagen werden, und einige erreichen niemals wieder ihre ovale Form. Die »Seher« sehen  das Bewusstsein als einen eigentümlichen Glanz. Die Bewusstheit des alltäglichen Lebens ist ein Leuchten auf der rechten Seite, das sich von der Außenseite des physischen Körpers bis zur Peripherie des Lichteies ausdehnt. Die gesteigerte Bewusstheit ist ein intensiverer Glanz, der sich mit großer Geschwindigkeit und Konzentration anheftet und der die Peripherie der linken Seite erfüllt.334 Don Juan sagte, dass die Seher das, was beim Nagualschlag geschieht, als eine vorübergehende Verschiebung eines Zentrums erklären, welches sich am leuchtenden Kokon des Körpers befindet. In diesem Zentrum werden die Emanationen des Adlers abgeschätzt und ausgewählt. Der Nagualschlag verändert dessen normale Funktion. Durch ihre Beobachtungen sind die Seher zu dem Schluss gelangt, dass die Krieger in diesen Zustand der Desorientierung versetzt werden müssen. Der Wechsel in der Art und Weise, wie das Bewusstsein unter diesen Bedingungen funktioniert, bringt es nämlich mit sich, dass dieser Zustand ideal ist, um die Befehle des Adlers zu erläutern: er erlaubt den Kriegern, wie im Alltagsbewusstsein zu funktionieren, mit dem Unterschied, dass sie sich mit einer unvergleichlichen Klarheit und Kraft auf all ihr Tun konzentrieren können.  Die Klarheit und Freiheit der linksseitigen Bewusstheit stehen in direktem Gegensatz zu den Rationalisierungen und dem unaufhörlichen Abwehren der rechten Seite.  Alle Krieger werden in die Tiefen derselben Situation – in Gestalt dieser Polarität – gestoßen und  der Nagual schafft und verstärkt die Spaltung, um seine Schüler zu überzeugen, dass es im menschlichen Wesen ein Bewusstsein gibt, welches noch nicht erforscht ist.

 

1 Das, was wir als Welt wahrnehmen, sind die Emanationen des Adlers

Die Welt, die wir wahrnehmen, hat keine transzendente Realität. Da wir mit ihr vertraut sind, glauben wir, daß das, was wir wahrnehmen, eine Welt der Dinge sei, die genau so existieren, wie wir sie wahrnehmen, während es in Wirklichkeit eine Welt der Dinge gar nicht gibt, sondern vielmehr ein Universum von Emanationen des Adlers. Diese Emanationen stellen die einzig unabänderliche Realität dar, eine Realität, die alles Existierende umfaßt, das Wahrnehmbare wie das Nichtwahrnehmbare, das Erkennbare und das Unerkennbare. Seher, die die Emanationen des Adlers sehen, nennen sie wegen ihrer zwingenden Kraft »Befehle«. Alle lebenden Wesen sind gezwungen, die Emanationen zu benutzen, was sie tun, ohne je in Erfahrung zu bringen, was jene sind. Der Durchschnittsmensch interpretiert sie als Wirklichkeit.

2 Es ist die Aufmerksamkeit, die uns die Emanationen des Adlers als Akt des »Abschöpfens« wahrnehmen läßt

Fie Wahrnehmung idz eine physische Fähigkeit, die von allen lebenden Wesen ausgebildet wird; das Endresultat dieser Ausbildung beim Menschen ist bei den Sehern als »Aufmerksamkeit« bekannt. Aufmerksamkeit ist der Akt des Einfangens und Lenkens der Wahrnehmung, die zur Bildung von Extrakten führt. Dieser Akt ist unsere größte Errungenschaft, und umfaßt die ganze Skala der Alternativen und Möglichkeiten des Menschen. Machen wir eine genaue Unterscheidung zwischen Alternativen und Möglichkeiten. Menschliche Alternativen sind diejenigen, zwischen denen wir als Personen innerhalb unseres sozialen Umfelds wählen können. Unser Panorama in diesem Bereich ist äußerst beschränkt. Menschliche Möglichkeiten sind hingegen jene, die wir als leuchtende Wesen zu erreichen imstande sind.

3 Die Extrakte bekommen ihren Sinn vom ersten Ring der Kraft zugewiesen

Der erste Ring der Kraft ist jene Macht, die von den Emanationen des Adlers ausgeht, um ausschließlich unsere erste Aufmerksamkeit zu beeinflussen. Wegen ihrer Dynamik, wegen ihrer ununterbrochenen Bewegung wird er »Ring« genannt. Er wird Ring »der Kraft« genannt, erstens wegen seines Zwangscharakters und zweitens wegen seiner einzigartigen Fähigkeit, seine Werke anzuhalten, sie auszutauschen oder seine Richtung umzukehren. Sein Zwangscharakter zeigt sich vor allem darin, daß er die erste Aufmerksamkeit nicht nur zwingt, Extrakte zu konstruieren und aufrechtzuerhalten, sondern daß er einen Konsens von allen Teilnehmern verlangt. Bei uns allen wird eine völlige Übereinkunft über die getreue Reproduktion der Extrakte erzwungen, denn die Übereinstimmung mit dem ersten Ring der Kraft hat vollständig zu sein. Genau diese Übereinstimmung ist es, die uns die Sicherheit gibt, daß die Extrakte Dinge sind, die als solche unabhängig von unserer Wahrnehmung existieren. Außerdem endet der Zwang des ersten Ringes der Kraft nicht mit der anfänglichen Übereinkunft, sondern verlangt, daß diese andauernd erneuert wird. Unser ganzes Leben lang müssen wir z.B. so verfahren, als ob jeder einzelne unserer Extrakte wahrnehmungsmäßig der erste für jedes menschliche Wesen wäre, ungeachtet der Sprachen und der Kulturen.

4 Die Absicht ist die Macht, die den ersten Ring der Kraft bewegt

Die Absicht bezieht sich nicht auf das Haben eines Vorsatzes oder auf das Begehren der einen oder anderen Sache, sondern es handelt sich bei ihr um eine unvergleichliche Macht, die sich uns auf eine Weise verhalten läßt, die man als Vorsatz, Verlangen, Wille etc. beschreiben könnte. Sie ust nicht eine Seinsbedingung, die von einem selbst herrührt, wie es eine Gewohnheit wäre, die durch Sozialisation produziert ist, oder als eine biologische Reaktion, sondern es ist eine persönliche, innere Macht, die wir individuell besitzen und als Schlüssel dazu benutzen, den ersten Ring der Kraft auf eine akzeptable Art zu bewegen. Es ist die Absicht, die die erste Aufmerksamkeit lenkt, damit sich diese auf die Emanationen des Adlers innerhalb eines bestimmten Rahmens konzentriert. Und es ist ebenfalls die Absicht, die dem ersten Ring der Kraft befiehlt, seinen Energiefluß zu blockieren oder zu unterbrechen. Gie Absicht ist als eine im Universum existierende unsichtbare Macht zu verstehen, die sich zwar nicht auf sich selbst bezieht, die aber dennoch alles beeinflußt: eine Macht, die die Extrakte schafft und aufrechterhält. Die Extrakte müssen unaufhörlich neu geschaffen werden, um mit Kontinuität erfüllt zu werden.

5 Der erste Ring der Kraft kann mittels einer funktionellen Blockierung der Fähigkeit, Extrakte aufzustellen, angehalten werden

Die Aufgabe des Nicht-Tuns ist es, eine Hemmung der gewöhnlichen Einstellung der ersten Aufmerksamkeit herbeizuführen. In diesem Sinne sind die Manöver des Nicht-Tuns dazu bestimmt, die erste Aufmerksamkeit auf die funktionelle Blockierung des ersten Ringes der Kraft oder:  mit anderen Worten; auf die Unterbrechung der Absicht vorzubereiten. Diese funktionelle Blockierung ist die einzige Methode, jene verborgene Fähigkeit des ersten Ringes der Kraft systematisch zu nutzen, eine vorübergehende Unterbrechung bedeutet, die der Wohltäter in der Fähigkeit des Schülers, Extrakte anzufertigen, schafft. Es handelt sich dabei um einen vorsätzlichen und kraftvollen künstlichen Eingriff in die erste Aufmerksamkeit mit dem Ziel, sie über die Erscheinungen, die uns die bekannten Extrakte zeigen, hinauszustoßen; dieser Eingriff gelingt durch das Unterbrechen der Absicht des ersten Ringes der Kraft. Bei der Durchführung der Unterbrechung wird die Absicht als das behandelt, was sie in Wahrheit ist: ein Prozeß, ein Fluss, ein Energiestrom, der sich unter gewissen Umständen anhalten oder umorientieren läßt. Eine Unterbrechung dieser Art bedeutet jedoch eine Erschütterung von solchem Ausmaß, daß sie den ersten Ring der Kraft dazu veranlassen kann, ganz und gar stehenzubleiben; eine Situation, die unter unseren normalen Lebensumständen unmöglich begriffen werden kann. Es erscheint uns undenkbar, daß wir die zum Konsolidieren unserer Wahrnehmung gegangenen Schritte zurücknehmen können, aber es ist möglich, daß wir uns unter dem Eindruck dieser Unterbrechung in eine Wahrnehmungsposition versetzen können, die der an unseren Anfängen sehr ähnlich ist, als die Befehle des Adlers noch Emanationen waren, die wir noch nicht mit Bedeutung belegten.

 6 Die zweite Aufmerksamkeit

Die Untersuchung der zweiten Aufmerksamkeit muss mit der Einsicht beginnen muss, dass die einengende Macht des ersten Ringes der Kraft eine konkrete, physische Grenze ist. Die Seher haben sie als eine Nebelwand beschrieben, eine Barriere, die systematisch in unser Bewußtsein gehoben werden kann durch die Blockierung des ersten Ringes der Kraft und die später durch das Training des Kriegers durchstoßen werden kann. Nach dem Durchschreiten der Nebelwand erreicht man einen ausgedehnten Zwischenbereich. Die Aufgabe der Krieger besteht darin, diesen zu durchqueren, um die darauf folgende Trennungslinie zu erreichen, die man durchstoßen muß, um in das einzutreten, was eigentlich das andere Selbst oder die zweite Aufmerksamkeit ist. Die beiden Trennungslinien simd leicht zu unterscheiden. Wenn die Krieger die Nebelwand durchstoßen, fühlen sie, daß ihre Körper verdreht werden, oder sie empfinden ein intensives Zittern in ihrer Leibeshöhle, meist rechts vom Magen oder durch die Mitte, von rechts nach links. Wenn die Krieger die zweite Linie durchstoßen, fühlen sie ein Krachen im oberen Teil des Körpers, wie das Geräusch eines kleinen trockenen Astes, der entzweigebrochen wird. Die zwei Linien, welche die beiden Aufmerksamkeiten einfassen und die sie einzeln versiegeln, sind bei den Sehern als die »parallelen Linien« bekannt. Sie versiegeln die zwei Aufmerksamkeiten durch die Tatsache, daß sie sich bis ins Unendliche erstrecken, so daß man sie nur kreuzen kann, wenn man sie durchstößt. Das, was hinter der zweiten Trennungslinie existiert, ist bei den Sehern als die zweite Aufmerksamkeit bekannt, oder als das andere Selbst oder als parallele Welt; und der Akt des Überquerens der beiden Grenzen wird das »Kreuzen der parallelen Linien« genannt. Man kann dieses Konzept eher verinnerlichen könnte, wenn jeder Bewußtseinsbereich als eine spezifische Voraussetzung der Wahrnehmung beschrieben wird. Wir sind im Gebiet der Bewußtheit des alltäglichen Lebens unentwirrbar in der Wahrnehmungsvoraussetzung der ersten Aufmerksamkeit verstrickt. Seit dem Moment, ab dem der erste Ring der Kraft mit dem Konstruieren von Extrakten beginnt, verwandelt sich die Art des Konstruierens in unsere normale Wahrnehmungsvoraussetzung. Das Durchbrechen der einenden Kraft dieser Wahrnehmungsvoraussetzung bedeutet das Durchbrechen der ersten Trennungslinie. Die normale Wahrnehmungsvoraussetzung erreicht dann den Zwischenbereich, der sich zwischen den parallelen Linien befindet. Man fährt fort, für eine Weile beinahe normale Extrakte zu konstruieren. Aber wenn man sich dem nähert, was die Seher die zweite Trennungslinie nennen, beginnt die Wahrnehmungsvoraussetzung der ersten Aufmerksamkeit nachzulassen; sie verliert ihre Kraft. Don Juan sagte, daß dieser Übergang durch eine plötzliche Unfähigkeit markiert ist, sich an das zu erinnern, was geschehen ist, oder es zu verstehen. Wenn man die zweite Trennungslinie erreicht, beginnt die zweite Aufmerksamkeit auf die Krieger einzuwirken, die diese Reise unternehmen. Man beginnt, den zweiten Ring der Kraft zu aktivieren, wenn man die zweite Aufmerksamkeit zwingt, aus ihrer Erstarrtheit zu erwachen. Dies erreicht man durch die funktionelle Blockierung des ersten Ringes der Kraft. Danach ist es die Aufgabe des Lehrers, die Anfangsbedingung des ersten Ringes der Kraft so wiederherzustellen, daß dieser am Ende wieder mit Absicht gesättigt ist. Der erste Ring der Kraft wird nämlich in Bewegung gebracht durch die Kraft der Absicht derjenigen, die das Extrahieren lehren. Es gibz eine neue Absicht, die ein neues Mittel zur Wahrnehmung schafft. Es ein ganzes Leben von unnachlässiger Disziplin braucht, die die Seher unbeugsame Absicht nennen, um den zweiten Ring der Kraft darauf vorzubereiten, Extrakte einer anderen Ebene der Emanationen des Adlers konstruieren zu können. Das Beherrschen der perzeptuellen Voraussetzung des parallelen Selbst ist eine Errungenschaft von unvergleichlichem Wert, die nur wenige Krieger erreichen.

Veröffentlicht in: Norbert Classen. Das Wissen der Tolteken: Carlos Castaneda und die Philosophie des Don Juan .Mexikanische Ausgabe von die Kunstz des Pirschens Carlos Castaneda El don del aguila